Bis der Job uns scheidet?

Treue zeigt sich nicht nur im Verzicht auf erotische Seitensprünge, glaubt Andreas Werner. Sondern vor allem in der Rücksicht auf die Entwicklung der anderen.

Dieser Job war’s

Gesellschaftliche Entwicklungen begleiten und in Features aufarbeiten. Wissenschaftler, Politiker und andere Entscheidungsträger interviewen. Tagesaktuell Politik kommentieren. Deswegen hatte ich diesen Beruf ergriffen, daraufhin studiert. Auch die Umstände gefielen mir. Das Gehalt, mein künftiger Chef, das Profil des Senders. „Und der Umzug dürfte kein Problem sein“, erklärte mein Gesprächspartner. „Der Wohnungsmarkt hier in der Stadt ist zurzeit gerade für Familien günstig.“ Der Umzug? Ja, der Sender habe in seinen Verträgen eine Residenzpflicht für Redakteure festgeschrieben.

Auch in Köln wird Fußball gespielt

Auf der Heimfahrt kreiste dieser Satz in meinem Kopf. Vorher hatte ich daran keinen Gedanken verschwendet. Zu meinem „alten“ Arbeitsplatz pendelte ich täglich gut 50 Kilometer, für den neuen wären sechs oder sieben dazugekommen; wo war das Problem? Aber jetzt…
Alternative 1: Wir ziehen um. Dann müssten Bettina zu ihrem Arbeitsplatz pendeln, unsere Tochter die Schule wechseln, die Söhne Schule beziehungsweise Kindergarten. Allerdings wäre die Pendelei angesichts der vielen Abendtermine für Bettina eine arge Zumutung. Und ihren Arbeitsplatz wechseln wollte sie bestimmt nicht; eigens für diese Stelle hatte sie anderthalb Jahre zuvor ihren Erziehungsurlaub abgebrochen.

Alternative 2: Wir führen eine Wochenend-Ehe. Und ich überlasse Bettina de facto die Fürsorge für die Kinder und den Erziehungsstress?

Während der folgenden Tage wurde mir zum ersten Mal bewusst: „Treue“ bedeutet mehr, als mit meiner Frau „bis dass der Tod euch scheidet“ zusammenzubleiben und mir Seitensprünge zu verkneifen. Und: Dass Heiraten und erst recht Kinderkriegen sich manchmal schwer vertragen mit anderen Zielen, die Eheleute „draußen“ anstreben.

Beruflichen Karrieren werden mit dem Scheitern der Ehe bezahlt

Dass der gesellschaftliche „mainstream“ unsere Lebensweise nicht eben begünstigt, war Bettina und mir schon des Öfteren aufgefallen. In dem Mehrfamilienhaus, in dem wir unsere erste eheliche Wohnung bezogen, waren außer uns selbst nur noch die beiden Alten im Parterre verheiratet; ansonsten: Singles mit Lebensabschnittspartnern, zwei allein erziehende Mütter mit ihren Kindern, eine Patchwork-Familie ohne Trauschein. Bei einer vierwöchigen Fortbildung an der Nordsee erntete meine Entscheidung, am Wochenende zu Bettina heimzufahren statt mit den Kollegen auf Segeltörn zu gehen, ungläubiges Achselzucken bis Kopfschütteln. Im Fernsehen hält bis heute allein Commissario Brunetti die Fahne des überlieferten Familienlebens hoch; ansonsten führen Talk-Shows wie Krimis gutbürgerliche Familien lieber als Beziehungshöllen und kaputte Beziehungen als zeitgemäßer vor (und viel spannender sowieso). Und bis in unseren Freundeskreis hinein kannten wir etliche Beispiele von Paaren, die ihre beruflichen Karrieren mit dem Scheitern ihrer Ehe bezahlt hatten.

Mit Kommissar Brunetti gegen den Strom

„Aber wenn es doch eine einmalige Chance für dich ist…“, sagte Bettina beim Abendessen. Die Kinder sagten gar nichts; nur unser Pampers-Kicker wollte wissen, welche Fußballvereine es denn in Köln gebe.

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir klar: Die Treue zu meinen beruflichen Zielen (im Nachhinein würde ich eher sagen: Träumen) würde die Treue zu unserem familiären Lebensstil gefährden. So wie Bettina ihren Traumjob hatten wir auch für die Kinder den Kindergarten und die Schule gefunden, die ganz auf unserer Linie lagen. Würden wir dafür am neuen Wohnort einen Ersatz finden?
Auf jeden Fall müssten wir uns von unseren Freundeskreisen ebenso verabschieden wie ich mich von der Mitarbeit in einer Elterninitiative. Die Verlässlichkeit unseres Familienlebens, die uns allen so gut tat, geriete erst einmal ins Wackeln. Plötzlich entdeckte ich einen ganz persönlichen Bezug in dem viel zitierten Satz aus Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“:

„Du bist verantwortlich für das, was du dir vertraut gemacht hast.“

Sollte ich meinen Kindern wirklich den Bruch zumuten, den ein solcher Umzug für ihre Entwicklung mit sich brächte?

Trennung von den Kindern nicht vorstellbar

Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, die Aufregungen und den Frust des alltäglichen Berufslebens demnächst mit Bettina am Telefon statt am Esstisch abzuarbeiten.

Irgendwann in diesen Tagen fiel mir Maureen ein. Ich hatte sie ein paar Wochen vorher bei Recherchen in einem oberbayerischen Internat kennen gelernt. Die 17-Jährige gehörte zu einem Kreis von sieben, acht Schülern, die ich über ihre Erfahrungen im Internat und ihre Familien befragt hatte. „Wie hat es Ihnen hier bei uns gefallen?“, wollte sie hinterher von mir wissen. Und ob ich mir vorstellen könnte, meine eigenen Kinder hierher zu schicken.
Ich musste überlegen. Ja, das Internat hatte mir gut gefallen, die Einstellung der Lehrer, die Pädagogik, die Atmosphäre, die die alten Gebäude und der Park drumherum vermittelten… Aber selbst zum Nulltarif würde ich meine Kinder nicht hierher schicken, weil ich mir nicht vorstellen kann, so weitgehend getrennt von ihnen zu leben.

Alternative Nr. 3: Ich habe in Köln dankend abgesagt. Und fühle mich bis heute gut damit.

Andreas Werner